Staffelführerin zu werden, ist oftmals nur eine Sprosse auf der Karriereleiter, doch in deinem Fall ist es die Spitze, denn du kommandierst keine Einheit an irgendeinem Grenzposten, die regelmäßig genauste Anweisungen von einem General bekommt und bloß ein kleines Glied in einer größeren Kette darstellt. Nein, du kommandierst eine besondere Staffel, deren alltägliche Einsätze nichts damit zu tun haben, eine Grenze zu beschützen. Deine Einheit beschützt ein Herzogtum – und zwar tatsächlich häufiger das politische System und die geltenden Gesetze als die Menschen, die darin leben. Mit denen verlierst du – im Gegenteil – zunehmend die Geduld (und befindest dich dabei in bester Gesellschaft). Aber was sollst du auch machen, außer einen scharfen Ton anschlagen, um eine Diskussion möglichst zu beenden, ehe sie überhaupt aufkommt? Besonders dann, wenn sie gar nicht über Inhalte reden wollen, sondern deine Kompetenzen anzweifeln? Jaja, Staffelführung mit dem Rang eines Colonels magst du ja sein, aber in deiner Staffel ist die Herzogin; diese Herzogin hat den höheren Rang als du. Sollte nicht sie das letzte Wort haben?
Je lauter die Zweifel, desto harscher deine Reaktion. Noch funktioniert alles, aber genauso, wie in Tyrrendor die Unzufriedenheit kocht, kocht es auch in dir. Du kratzt daran, Grenzen des Tragbaren zu überschreiten, während du es nur richtig machen willst.

Was immer du dir dabei gedacht hast, dich nach deinem Wehrdienst weiterhin dem Militär zu verschreiben, von deiner heutigen Realität hast du sicherlich nicht geträumt: Du sitzt im Stadthaus irgendeines Adeligen in Lewellen fest, den man ausquartiert hat, weil die neue Herzogsfamilie irgendwo unterkommen musste. Du kämpfst nicht mehr gegen Einheiten aus Poromiel, die über die Grenze stürmen und Dörfer plündern – sondern mit Teenagern, die ebenso Grenzen stürmen: Grenzen des Hauses, Grenzen ihrer Bewegungsfreiheit. Kinder seien schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe, sagt man – und du hast dich die letzten Jahre mit der Wahrheit in diesem Sprichwort auseinandersetzen müssen. Als Captain der herzoglichen Leibgarde koordinierst du die meisten Einsätze schließlich nur noch, statt selbst am Hofportal Wache zu stehen, damit bloß die gewünschte Kutsche und keine Zivilisten durch den Eingang huschen. Dementsprechend hast du Zeit, glauben zumindest zwei Teenager, denen du derzeit womöglich mehr Elternteil bist als jenes Paar, das deine Dienstherren und ihre richtigen Eltern sind. Und so hörst du zu, trocknest Tränen, spielst Spiele und stellst gewissermaßen sicher, dass nicht nur das Leben dieser Kinder unversehrt bleibt, sondern sie sich auch Herz und Gefühl bewahren. Zwei Dinge, die für Tyrrendors Zukunft wichtiger sind als jene Kälte und Härte, mit der zurzeit oft entschieden wird. Aber es steht dir nicht zu, dergleichen laut zu sagen.

Schon als man dich in diese Staffel und in diesen Teil von Tyrrendor versetzt hat, war es eine Mischung aus Vorruhestand und der Möglichkeit, niemals gehen zu müssen. Du hast mehr Schlachten geschlagen als die meisten Drachenreiter, die dein Alter überhaupt erreichen. Du kennst die Menschen, ob sie Freund oder Feind sind, und ob an Shahar oder Hellen: Es ist dein Job, dieses Wissen weiterzugeben. Es ist dein Job, in ihrem Hintergrund die Stellung zu halten, alles zu tun, wofür sie keine Zeit haben, alles zu verteidigen, was sie gerade schutzlos zurückgelassen haben. Seit gut drei Jahren bedeutet das, dass du als einziger rund um die Uhr in Dewwey bist. Als Kommandant des neuen Stützpunkts könnte man dich beschreiben, als denjenige, der eine Verteidigung organisieren müsste, sollte ein Angriff je erfolgen. Du fungierst als stellvertretende Staffelführung, obwohl du den Titel nicht trägst. Das meiste, was du tust, sieht keiner und dankt dir niemand. – Jedenfalls keiner, der es dir so direkt noch sagen kann, denn im ersten Jahr ist Kadett:innen im College der Kontakt nach außen verboten. Und so müssen fehlende Todesnachrichten Dank genug dafür sein, dass du in den letzten Jahren die Vorausbildung zweier Mädchen koordiniert hast, die jetzt im Reiterquadrant sind: Ein gezeichnetes Pflegekind des Herzogspaars und eine Nichte der Herzogin.

„Das war – gelogen?!“ - Oh, aber ja! Während sich Entsetzen und Überraschung auf den Gesichtern deiner Gesprächspartner:innen ausbreiten, liegt auf deinem ein Lächeln. Denn du weißt, dass du überzeugend bist, dir die Wahrheit stets zu Recht biegst und selbst deine eigenen Leute nicht immer in deine Karten schauen lässt. Umso schöner sind jene Momente, in welchen du – nachträglich – offenbaren kannst, welchen Geniestreich der Propaganda du dir einmal mehr ausgedacht hast. Und dergleichen ist oft genug nötig. Sei es nun in einem öffentlichen Kontext, weil Spuren der Rebellion, Unzufriedenheit der Bevölkerung oder Versagen der Regierung getarnt werden müssen – oder in einem privateren, weil ein Schriftstück oder ein Gegenstand mit tyrrischen Runen darauf doch so viel belangloser und wertloser ist, als ihre Finder oder deine eigenen Kollegen sich eingebildet haben. Selbst forschst du an solchen Funden nur noch selten. Selbst bist du nicht mehr mit der alltäglichen Dokumentation eines Krieges oder der Neuerfassung eines Herzogtums beauftragt. Du delegierst nur, schaust ihnen skeptisch auf die Finger – und leitest nach Calldyr Stadt, an Aurelia und ihre Staffel, weiter, was zu brisant ist, um in Tyrrendor und damit in wahrscheinlicher Nähe zu überlebenden Rebellen zu bleiben. Und längst beläuft sich dieser skeptische Blick nicht nur auf tyrrische Fundstücke, sondern auch auf das Verhalten deiner Staffelmitglieder, deiner Herzogsfamilie. Ein paar Ideen hier, ein paar Veränderungen da, damit alles in besserem, erfolgreicherem Licht dasteht: Oft ist es dein Werk.

Das Basgiath War College liegt so gerade erst hinter dir, du hast den Quadrant der Reiter ebenso erfolgreich überlebt wie dein erstes Dienstjahr unmittelbar an der Front – was nicht jeder aus deinem Jahrgang behaupten kann. Und trotzdem: Du bist stets das Küken, der Frischling; ganz wie Hellen findest du dich regelmäßig in der Position wieder, dich beweisen zu müssen. Statt irgendeinem offiziellen Titel innerhalb der Staffel hast du aber bloß lobende Attribute, derer du dich würdig erweisen musst: Mit Soleil trägst du einen Nachnamen, der für einen militärischen Erfolg steht, den du persönlich noch nicht vorweisen kannst. Dein 15jähriger Bruder (unbespielt) ist mit der Tochter des Herzogspaars von Tyrrendor verlobt und man sieht auf dich als Beispiel, was von dem Kleinen einst zu erwarten ist. Dazu haben Theary und Aurelia dich ausgesucht und dafür gesorgt, dass du hierher versetzt wirst. Ob diese Entscheidung bei dir immer auf Gegenliebe stößt, lässt sich nicht sicher sagen, aber du kennst die Strukturen im Militär, die Verpflichtung, Befehlen zu gehorchen. Also bist du hier und nimmst an und auf, was Nevian dir über die Verhältnisse vor Ort zu sagen hat. Dinge, die er dir aus Hilfsbereitschaft, Loyalität und Freundschaft sagt, können schneller mehr Bedeutung haben, als du je gedacht hast. Denn Nevian gilt es zu ersetzen, wenn er bei dem Versuch, Rebellen zu verfolgen, länger fort bleibt als jemals gedacht.

„Es ist vorbei“ hat Shahar vor fünf Jahren und triefend vor Sarkasmus gesagt, als sie aus Calldyr Stadt nach Lewellen zurückkehrte und offiziell erst mal nur von einem unterzeichneten Friedensvertrag berichtete. Still im Gepäck hatte sie damals auch schon das Wissen, dass ihr Mann und sie Tyrrendor als Lehen bekommen würden – und dafür verantwortlich, aus diesem angeblichen Ende einer Rebellion eine Wahrheit zu machen. Seitdem versucht sie, der Doppelrolle aus Militär und Politik gerecht zu werden und braucht Menschen, auf die sie sich verlassen kann. Allen voran ist das diese Staffel, auf deren Zusammenstellung sie anfangs etwas Einfluss genommen hat.

Nevian beispielsweise gehört zu jenen, die Shahar haben wollte. Persönliche Freundschaft und Systemtreue sind dabei ebenso ein Argument, wie es wichtig war, Menschen aus alten, hochrangigen Familien um das neue Herzogspaar zu versammeln. Es war jemand wichtig, der Menschen sympathisch sein konnte, gleichzeitig aber nicht wirklich ein weiches Herz besaß, sondern die Bereitschaft, auch eigene Verbündete zu töten, wenn sie versagten. Dass Nevian nicht nur Aufträge aus seiner Staffel entgegen nimmt, sondern von anderer Stelle manchmal bis über die Grenze nach Poromiel entsandt wird, um Deserteure zu töten, weiß Shahar nicht. Bisher haben solche Aufträge ihn immer schnell wieder zurück nach Dewwey geführt.

Oryon wird man dort dagegen sehr selten sehen, weil er einem Undercover-Auftrag nachzugehen hat. Die eigene Staffel weiß darum, doch seine Zielpersonen sollten ihn nicht dabei sehen, an diese Staffel zu berichten. Enttäuscht, statt eng befreundet muss er sich vom Militär und der (lokalen) Politik zeigen, und seinen Trost in einer Sekte suchen. Denn diese tut für die Bevölkerung zwar tatsächlich auch Gutes (und hat deswegen zurecht Unterstützung), ist aber auch für Anschläge gegen das System verantwortlich und strebt generell nach anderen Verhältnissen.

Da Oryon wie Nevian ihren eigenen Aufgaben teils fern von der Staffel nachgehen, ist es gut, Unterstützung von außerhalb zu haben: Nie war Aurelia Teil dieser Staffel, sondern gehört zu einer Einheit in Calldyr Stadt. Mit ihr findet ein Material- und Informationsaustausch statt, wann immer es nicht möglich ist, offizielle militärische Hierarchien einzuhalten. Denn nicht jeder, der in Tyrrendor stationiert ist oder auch nur zu dieser Staffel gehört, weiß beispielsweise um die Existenz von Veneni. Und so pflegt man eine Bekannt- oder Freundschaft zu Aurelia, um zu verschleiern, dass Dienstwege umgangen werden.